Von Wortbausteinen zu Wortfamilien:

Zwei kluug-Spiele mit Fokus auf die Wortebene

Nachdem die ersten drei kluug-Spiele eine Förderung vor allem auf Buchstabenebene ermöglichten (mehr dazu im ersten Blogbeitrag), geht es für die Kinder nun einen Schritt weiter: zur Wortebene. Wer einzelne Buchstaben und Silben sicher erkennt, kann beginnen, Wörter zu bilden und deren innere Struktur zu verstehen. Die nächsten beiden kluug-Spiele setzen genau hier an: Sie fördern das kreative Kombinieren von Wortbausteinen und helfen, Wortfamilien zu erkennen. Beides sind wichtige Fähigkeiten, um Lesekompetenz und Sprachbewusstsein weiterzuentwickeln. Die Spiele 4 und 5 sind somit speziell darauf ausgerichtet, das Verständnis für Wortstrukturen spielerisch zu fördern und den Wortschatz gezielt zu erweitern.  In einem Beitrag des Sammelbandes Literarische Texte lesen – Texte literarisch lesen. Festschrift für Cornelia Rosebrock aus dem Jahr 2024 beleuchten Prof. Dr. Steffen Gailberger und Dr. des. Gerrit Helm, welche maßgeblich an der Entwicklung von kluug beteiligt waren, die wissenschaftlichen Grundlagen und die praktische Umsetzung der zwei Lernspiele auf Wortebene, die nun im Detail genauer betrachtet werden.

Spiel 4: Ab auf’s Band

Wissenschaftlicher Hintergrund:

Wörter bestehen aus kleineren Bedeutungseinheiten, den sogenannten morphologischen Konstituenten. Diese umfassen unter anderem Wortstämme, Präfixe und Suffixe. Ein Beispiel hierfür ist das Wort gebacken, das sich aus der Vorsilbe (Präfix) ge, dem Wortstamm back (vom Infinitiv backen) und der Endung (Suffix) en zusammensetzt. Die Zerlegung und richtige Interpretation dieser Bestandteile kann den Zugang zu komplexen Wörtern erheblich erleichtern. Verschiedene Untersuchungen, welche von Gailberger und Helm 2024 ausgewertet wurden, zeigen, dass sich ‚starke‘ und ‚schwache‘ Leser*innen auch darin unterscheiden, wie sie morphologisch komplexe Wörter lesen. Während stärkere Leser*innen Wörter in ihre Bausteine zerlegen und deren Bedeutung ableiten können, gelingt dies schwächeren Leser*innen oft nicht. Stattdessen verlassen sie sich auf die Lautung und neigen dazu, Wortbedeutungen falsch zu interpretieren. Ein Beispiel dafür ist das Wort unermüdlich. Starke Leser*innen erkennen die Bestandteile un-, er-, müd und –lich und verstehen, dass das Wort von müde abgeleitet ist und nicht müde werdend bedeutet. Schwächere Leser*innen hingegen könnten das Wort mit dem klangähnlichen gemütlich assoziieren und dadurch eine falsche Bedeutung erschließen. Andere Untersuchungen zeigen zudem, dass Schüler*innen deutliche Fortschritte im Leseverständnis und in der Dekodiergenauigkeit erzielen, wenn sie gezielt auf die innere morphologische Struktur von Wörtern aufmerksam gemacht werden (vgl. Gailberger/Helm 2024: 156).

Didaktische Umsetzung:

Das Spiel 4: Ab auf’s Band setzt genau an diesem Punkt an, indem es den Lernenden erlaubt, die Struktur von Wörtern induktiv zu erforschen. Im Spiel werden Wortbestandteile als Pakete auf einem Förderband dargestellt. Am oberen Ende fallen immer wieder neue Pakete mit verschiedenen Wortbausteinen auf das Förderband, am unteren Ende fallen die Pakete in eine Röhre. Das Ziel besteht darin, dass ausschließlich korrekt zusammengesetzte Wörter der deutschen Sprache in der Röhre landen. Die Spieler*innen müssen somit die Wortbausteine per Drag-and-Drop zu vollständigen Wörtern zusammensetzen. Sie sollen beispielsweise aus einem Wortstamm und einer Endung ein neues, komplexes Wort bilden. Richtig gebildete Wörter gelangen in die Abholstation, während falsche Kombinationen wieder auf das Förderband zurückfallen (vgl. Gailberger/Helm 2024: 156).

Das Spiel beginnt mit einfachen Wortstämmen und Endungen und steigert sich sukzessive in der Schwierigkeit, indem es Vorsilben und weitere Endungen einführt. Auf höheren Leveln wird das Spiel durch zusätzliche Herausforderungen komplexer: Dazu gehören die Einblendung von Flexionspronomen, eine schnellere Fließbandgeschwindigkeit oder anspruchsvollere Wortstrukturen (vgl. Gailberger/Helm 2024: 157). In einem exemplarischen Durchgang könnten Pakete mit den Wortbausteinen sag, frag, schnell, er, e und en auf das Förderband fallen. Die Spieler*innen müssen dann die korrekten Kombinationen wie sagen, fragen oder schneller erstellen. Die richtig gebildeten Wörter werden von der Röhre akzeptiert und gespeichert, nach erfolgreichem Levelabschluss fallen sie am Ende auf eine Paket-Sammelkarre. Fehlerhafte Wörter wie sager werden wieder zum Beginn des Förderbandes befördert. Zu viele falsche Pakete lassen das Level zudem scheitern.

Durch die wiederholte Auseinandersetzung mit häufigen Morphemen wie an-, um-, ver– oder –ung, –en lernen die Schüler*innen, wie diese die Bedeutung von Wörtern beeinflussen. So entwickelt sich durch spielerisches Lernen eine tiefere morphologische Bewusstheit, die langfristig die Lesekompetenz stärkt (vgl. Gailberger/Helm 2024: 157).

Abb. 1: Spiel 4 – Ab auf’s Band

Spiel 5: Familien

Wissenschaftlicher Hintergrund:

Die deutsche Schriftsprache folgt bestimmten Prinzipien, die dazu beitragen, dass sich Wortverwandtschaften und -strukturen im Schriftbild widerspiegeln. Ein zentrales Konzept ist dabei die Stammkonstanz-Schreibung, die sicherstellt, dass Wörter mit gemeinsamer Wurzel trotz unterschiedlicher Aussprache eine einheitliche Schreibweise behalten. Ein Beispiel ist das Wortpaar Baum und Bäume. Obwohl die Lautung des zweiten Wortes eher *Beume erwarten lassen könnte, bleibt die Schreibung mit äu erhalten, um die Verwandtschaft zum Wort Baum zu verdeutlichen. Die Stammkonstanz-Schreibung hilft somit, semantische Zusammenhänge sichtbar zu machen und Missverständnisse zu vermeiden. Auch die Verdopplung von Konsonanten ist ein Zeichen der Stammkonstanz. So wird Brett mit einem doppelten t geschrieben, weil es eine mehrsilbige Form gibt – Bretter. Würde das Wort einsilbig als *Bret geschrieben, wäre die Verbindung zur Pluralform weniger ersichtlich. Das Prinzip sorgt also dafür, dass die Struktur von Wörtern auch in kürzeren Formen erhalten bleibt und für Leser*innen nachvollziehbar ist (vgl. Gailberger/Helm 2024: 158).

Durch diese Regelmäßigkeit ermöglicht die Stammkonstanz-Schreibung eine bessere Orientierung in der Schriftsprache und erleichtert das Erlernen der deutschen Rechtschreibung. Besonders für Lernende ist sie eine wertvolle Hilfe, um systematische Zusammenhänge zu erkennen und sich Rechtschreibregeln nachhaltig einzuprägen. Zudem kann das Wissen über Wortverwandtschaften förderlich für den Wortschatz sein.

 

Didaktische Umsetzung:

Um das Erkennen von Wortverwandtschaften und Wortfamilien zu trainieren und zu automatisieren, wurde Spiel 5: Familien entwickelt. Die visuelle Gestaltung basiert auf Drachen, die jeweils einen Wortstamm repräsentieren, sowie Libellen, auf denen verschiedene Wörter stehen. Die Drachen sind am Bildschirmrand platziert und strecken ihre Zungen heraus, um Libellen zu fangen, wenn sie angetippt/angeklickt werden. Sie fressen dabei jedoch nur jene Libellen, die zu ihrer Wortfamilie gehören. So nimmt der Drache les beispielsweise lesen und Lesung auf, jedoch nicht lassen. Falsche Libellen werden von den Drachen wieder ausgespuckt, sodass der richtige Drache mit der korrekten Wortfamilie die Libelle noch fressen kann (vgl. Gailberger/Helm 2024: 159).

In den ersten Leveln des Spiels erscheinen nur wenige Drachen am Bildschirmrand, und die Anzahl der umherfliegenden Libellen ist begrenzt. Zudem besitzen die Drachen und die zugehörigen Libellen die gleiche Farbe, um lernschwächeren Kindern eine visuelle Unterstützung zu bieten. Mit steigendem Schwierigkeitsgrad entfällt diese Farbzuordnung, sodass die Kinder die Wortverwandtschaften ausschließlich durch Lesen und sprachliche Analyse erkennen müssen. Zudem nimmt die Anzahl der Drachen und Libellen zu und deren Bewegungsgeschwindigkeit steigt (vgl. Gailberger/Helm 2024: 159f).

Ein typischer Spielverlauf sieht so aus: Am unteren Rand des Bildschirms befindet sich der Drache fett, während der Drache scheid am oberen Rand positioniert ist. Zudem sind noch zwei weitere Drachen am Rand platziert. Die Spieler*innen beobachten, wie Libellen mit Wörtern wie fetten, fettig, kämpfst und entscheiden über den Bildschirm fliegen. Nun müssen sie zum richtigen Zeitpunkt auf den jeweiligen Drachen tippen, wenn eine passende Libelle in dessen Nähe ist. Ein richtiger Treffer lässt den Drachen die Libelle fressen und füllt die Fortschrittsanzeige, während eine falsche Auswahl dazu führt, dass die Libelle wieder ausgespuckt wird.

In höheren Leveln können bis zu sechs Drachen am Bildschirmrand sitzen, die Anzahl der Libellen steigt an und die Wortverwandtschaften werden komplexer. Beispielsweise muss der Drache les dann auch die Libelle liest fressen und der Drache schreib das Wort Schrift erkennen. Dies steigert die kognitive Herausforderung und fördert das tiefere Verständnis für Wortstämme und deren Veränderungen (vgl. Gailberger/Helm 2024: 160).

Abb. 2: Spiel 5 – Familien

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Literatur

Gailberger, S., Helm, G. (2024): kluug das Lesen fördern. Digitale systematische Leseförderung für die Grundschule. In: Carl, M.-O., Jörgens, M., Schulze, T. (Hrgs.): Literarische Texte lesen – Texte literarisch lesen: Festschrift für Cornelia Rosebrock. Berlin: Springer Berlin Heidelberg. S. 143-172.